Aachen. Als Aachens Stadttheater jüngst eine Matinee zur Vorbereitung auf die Neueinstudierung von "Wiener Blut" ankündigte, war der erste Gedanke des Skeptikers: "Ist wieder einmal eine Gebrauchsanweisung erforderlich, um die krausen Gehirnwindungen eines spinnerten Sozio-Schocktherapeuten entwirren zu können?" Die Angst ist gegenstandslos: Matthias Nowack gibt dem Affen Zucker und verläßt sich lieber auf bewährte Konvention, auf Ausstattung, auf die Kostümpracht von Simone Willnecker und auf viel und zum Teil überflüssigen Betrieb auf der Szene.
Wenn der Vorhang sich öffnet, gibt es schon den ersten Beifall: Aachens Theaterpublikum ist, was Farbigkeit der Szene angeht, so ausgehungert, daß bereits das bunte, verspielte Operetten-Ambiente von Ernst Masson Begeisterung auslöst. Wir sind halt bescheiden geworden.
"Wiener Blut" ist bekanntlich kein Originalwerk von Johann Strauß. Ein cleverer Geschäftemacher unterlegte die dünne Handlung von Victor Léon und Leo Sein mit Musik des Walzerkönigs, ohne dass etwas dramaturgisch-musikalisch Schlüssiges daraus entstanden wäre.
Das Verwirrspiel um die Amouren des Grafen Balduin, im Schlußakt ein dünner Nach-Aufguß von Mozarts genialem "Figaro"-Finale, lebt vom Drumherum. In dieser Beziehung ließ sich Nowack nicht lumpen. Der halbe Wiener Kongreß war aufgeboten, ein Männergesangverein war vorn Rhein angereist, Ehrenjungfrauen durften defilieren, das geflügelte Ballett, für dessen Tanzeinlagen Gregor Zölling verantwortlich zeichnete, mußte für Schwung sorgen, wenn das Ganze in lauter Betrieb zu ersticken drohte, und in jeder Ecke der Bühne tat sich detailverliebt etwas.
Rebecca Orr durfte ihre Akkordeonkünste vorführen, und im Parkett liefen Livrierte mit Sektgläsern herum.
Dennoch wollte der erste Akt nicht zünden. Erst auf dem Fest des Grafen Bitkowski kam so etwas wie Operettenflair auf, um im zerdehnten Schlußakt sich wieder zu verflüchtigen. Betrieb alleine macht's hält nicht, das Ganze hätte vor allern im dialogseligen Schlußakt energische Straffung nötig. Dies umsomehr, als dem Stück etwas Entscheidendes fehlt: der todsichere Operettenschlager. Drei Stunden lang zieht allbekannte Strauß-Musik meist walzerselig am Hörer vorbei, ohne daß sie sich zum durchschlagenden Tenor- oder Sopranhit verdichtete.
Wie die Musik, so zerfasert die Inszenierung, ein buntes, stellenweise auch albernes Amüsement, gekonnt gemacht, aber ohne zwingende Geschlossenheit und Durchschlagskraft.
Willy Schell, immer bühnenpräsent und lebendig, flüchtet als gräflicher Schutzanzuges Balduin abwechselnd vor seiner Frau Gabriele und ins Falsett. Aber das ist nicht tragisch, weil ihm - wie gesagt - die große Tenornummer ohnehin versagt wird. Evelyn Holzschuh bleibt der Partie der Gräfin weder an fraulichem Charme noch an sängerischer Leuchtkraft etwas schuldig, Andrea Matthews, die Tänzerin Franziska, singt und agiert gleichermaßen locker, was auch von Anne Male Kremer, der Probiermamsell Pepi, zu berichten ist.
Erhard Burkhardt, dieser alte Operettenmime, zieht als trotteliger Premierminister alle Register der Komik. Christian Hees, der Kammerdiener Josef, erfreut mit seinem beweglichen Spieltenor wie mit seinem agilen Spiel. Hans-Josef Schmitz müht sich als Karussellbesitzer Kagler redlich, zwischen Wienerisch und Öcherisch zu vermitteln, vielfach gelingt es ihm. Johannes Piorek in Napoleonpose ist der ausleerende Graf Bitowski. Lassen wir's damit bewenden und beschränken uns auf ein Gesamtlob für die vielen Mitwirkenden in kleineren Rollen. Rainer Steubing hatte den vielfach eingesetzten Chor gut präpariert, und die endlich einmal in einer Musik-Bühnenproduktion auftretende Ballett-Compagnie erfreute mit bemerkenswerter Perfektion.
Am Dirigentenpult stand Stefan Lano, in der monatelangen Abwesenheit des Generalmusikdirektors bis an die Grenzen der Belastbarkeit strapaziert. Er führte sein Orchester sicher, hielt den Gesamtapparat souverän in der Hand, ohne daß jedoch die Funken gestoben hätten. Aber die zusammengestückeIte Musik gibt das wohl auch nicht her.
Überaus herzlicher, langanhaltender Beifall zum Schluß.