Nr. 226 / Ruhr-Nachrichten
Dienstag, 30. September 1986

Hoffnungsvoller Beginn der Weigmann-Spielzeit

Neuer "Rosenkavalier"
besser als alte Fassung

Gelsenkirchen. Premiere der ersten Weigmann-Spielzeit im Großen Haus: Auch wenn zunächst nur eine Wiederaufnahme anstand - der RosenkavaIier von Richard Strauss - so galt sie doch als Testprobe für ein ganz und gar neues Solistenensemble.

Wie, so hatte man sich mit Recht gefragt, soll eine so höchst eigenwillige Inszenierung in völlig veränderter Solistenbesetzung über die Bühne gehen, wenn ihr Meister, Jaroslav Chundela, nicht mehr zur Verfügung steht?

Die Überraschung ist freilich perfekt - denn die Wiederaufnahme ist - ohne das Konzept in irgendeiner Weise zu verfälschen - tatsächlich sogar besser als die Premiere.

Die Neuen" singen und agieren mit einer Frische und Intensität und die Bewegungsverläufe zur Musik sind insgesamt so sinnfällig und in ihrer Kontrapunktik so stimmig, daß Sehen und Hören sich zusehends aneinander steigern. Das ist wohl zunächst das Verdienst des jungen Regieassistenten Matthias Nowack, der hier zu zeigen vermag, daß er von Musik, Szene und Menschenführung sehr viel versteht.

Und das neue Solistenteam, das Mathias Weigmann nun zum erstenmal in Aktion vorstellt? Es sind junge, unverbrauchte Stimmen, die er vor allem unter dem deutschen Nachwuchs gefunden hat. Im Rosenkavalier wird dies zunächst bei den Sängerinnen deutlich: Gabriele Maria Ronge (Feldmarschallin), Cornelia Kallisch (Graf Octavian), Barbara Fuchs (Sophie), Ilse Köhler als Gast (Ananas), dazu Jagna Sokorska-Kwika (Leitmetzerin) - das ist ein beglückend stimmiges und mit Hingabe agierendes Frauenensemble.

Unter den Männerstimmen fällt vor allem John Riley-Schofield (Faninal) als Charakterdarsteller von Format auf. Daß zwischen all diesen neuen Gesichtern ein alter Gelsenkirchener, Karl Fäht nämlich, als Ochs von Lerchenau, wieder einmal erzmusikantische Urstände feiert, das verleiht der Aufführung ihren befreienden Charme.

Und Dirigent Christoph Kurig hält Orchester wie Szene auf Tempo und Schwung, packt Straussens Musik bei ihrem dramaturgischen Sinn und läßt sie ebenso gehörig poltern, wenn's sein muß, wie auch schmelzend zart sein. Kurz: Die Aufführung hat Spannung, Gefühl, Wärme, Humor und ist für Intendant, Ensemble und Publikum, ein hoffnungsvoller, Mut-weckender Beginn.

Heinz-Albert Heindrichs

Westdeutsche Allgemeine Zeitung

"Rosenkavalier" erlebt eine umjubelte Wiederaufnahme

Fast schon eine Idealbesetzung

Weigmanns Ensemble besteht Bewährungsprobe im Großen Haus mit Anstand

GELSENKIRCHEN. Ein solch fragiles Operngebilde wie den "Rosenkavalier" mit fast komplett ausgetauschter Besetzung aus der vorangegangenen Saison zu übernehmen, ohne den Regisseur um Beistand zu bemühen, und obendrein die musikalische Leitung in neue Hände zu legen, mutet schon tollkühn an. Doch das Vabanquespiel den neuen Gelsenkirchener Generalintendanten Mathias Weigmann ist aufgegangen. Mehr, noch: Die letzte große Opernproduktion der Ära Leininger wirkt in der Wiederaufnahme, die Regieassistent Matthias Nowack betreute, in vielem schlüssiger als in der Premierenbesetzung Die knifflige Balance von wehmütiger Melancholie und saftiger Komödie ist hier exakt austariert. Dies Ist der wichtigste Zugewinn.

Weigmann stand fast eine Idealbesetzung zur Verfügung die durch Wohlklang und Stimmkultur betörenden jungen Soprane Cornelia Kallisch als Octavian und Gabriele Maria Ronge als Marschallin sowie ein bewährter Buffo auf dem Sprung ins Charakterfach Karl Fäth als Ochs von Lerchenau. Ihnen galt namentlich der Jubel im (leider nicht ausverkauften) Großen Haus.

Freilich, es ist nicht mehr die Inszenierung Jaroslav Chundelas, es ist eine Aufführung nach Chundelas Einstudierung. Aber die in diesem Fall fast zwangsläufige Überarbeitung muß ja nicht unbedingt von Nachteil sein.

Die geschärftem Ecken und Kanten der Premierenfassung sind in der Wiederaufnahme blankgeschliffen. Regisseur Chundela zeigte die Rokoko-Staffage der Strauss-Oper als rückwärtsgewandte Projektion einer Zeit, die um ihren drohenden Untergang weiß, als Beschwörung eines phantastischen Traumes vom 18. Jahrhundert aus dem Geist des fin de siècle. Dabei erwies sich, wie brüchig Richard Strauss und seinem Librettisten Hugo von Hofmannsthal der Rückgriff auf den Typus der opera buffa Mozartscher Prägung geraten ist Aber im Detail wirkte diese Einstudierung nicht durchweg überzeugend.

Die Wiederaufnahme büßt das Doppelbödige ein. Sie nimmt das deftige Sittenbild für bare Münze. Und dabei zeigt sich überraschend, wie tragfähig allein schon die psychologische Thematik ist. Die Lebensweisheit des wehmütig entsagenden Alters, wie sie die erstaunlich wandlungsfähige Gabriele Maria Ronge als reife Marschallin verkörpert, der diametral entgegengesetzte kecke jugendliche Übermut des Octavian, den Cornelia Kallisch trotz leichter Nervosität ohne Übertreibung ausspielt, und das grantigpolternde Fossil aus einer überlebten Zeit, das Karl Fäth als Junker Ochs abgibt, ohne (wie die Premierenbesetzung) in die Karikatur abzugleiten - das sind treffliche in vielen Nuancen ausgekostete Charakterstudien. Daß Cornelia Kallisch über einen schlanken, auch in den Höhen wendigen Mezzo von betörendem Schmelz verfügt und die ihre Rolle mit wenigen Gesten glaubwürdig meisternde Gabriele Maria Ronge Spitzentöne ohne Schärfen setzt, und die Textverständlichkeit geradezu vorbildlich genannt werden muß , macht das Glück nahezu perfekt.

Zugute kommt dieser psychologischen Schärfung der Verzicht des Ausstatters Carl Friedrich Oberle auf präzise Rokoko-Details. Um das wahre Spiel des Lebens beginnen zu lassen, bedarf es nicht erst der vor dem (vorzüglich gesungenen) Schlußterzett abgeräumten Bühne. Schon die von Herbstlaub gesäumte und von schwülen Farben beherrschte fächerförmige schiefe Ebene des ersten Aktes, die das gesellschaftliche Auf und Ab andeutende riesige Treppe im Hause des neureichen Bourgeois von Faninal und die Vorstadtschmiere des Schlußaktes lassen reichlich Raum für psychologische Kabinettstücke.

Charakterisierungskunst zeigen auch John Riley-Schofield als Faninal und Karl-Heinz Brandt zusammen mit einem Gast Ilse Köhler aus Mannheim, als Intrigantenpaar Barbara Fuchs als Sophie behauptete sich am besten im Schlußterzett an der Seite von Cornelia Kallisch und Gabriele Maria Ronge. In den kleineren Rollen ragt der Gast Manfred Fink als Sänger hervor.

Der von Nandor Ronay einstudierte Chor und eine solide Leistung des 1. Kapellmeisters Christoph Kurig am Pult der Philharmoniker rundeten die Wiederaufnahme zu einem auch musikalisch qualitätvollen Abend.

Bernd Aulich

Historisches