"La Traviata" ist nicht nur die kammermusikalischste Oper Verdis , sie ist auch seine veristischste": Als einziges seiner Werke - wenn man von dem verunglückten "Stiffelio" absieht - spielt sie nicht in einer fernen Vergangenheit, sondern greift sie ein zu ihrer Entstehungszeit höchst aktuelles sozial-psychologisches Problem auf. Die Halbweltdame großen Stils, die ein junger Liebender zum Engel machen will, erregte, vom jüngeren Dumas auf die Bühne gestellt, um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Pariser Gemüter. Das ist heute vorbei. Ein Gutes hat die Zeitbedingtheit des Stoffes jedoch, sie hindert den Regisseur daran, Verrenkungen zu machen, um das Stück in die Zeit seiner Entstehung zu versetzen, wie es heute große Mode in der Opernregie ist. Für diese Deckungsgleichheit sorgten bereits Dumas und Piave.
Zum fünften Male seit der Wiedereröffnung des Aachener Stadttheaters, Ende 1951, erscheint "La Traviata" auf dem Spielplan. Alle vier voraufgegangenen Produktionen scheiterten mehr oder weniger an Besetzungsmängeln. Das war kein Wunder, "La Traviata" ist die Sänger-Oper par excellence. Es gibt kein zweites Werk Verdis, das die Titelpartie so exponiert, wie es hier der Fall ist. Die Partie der Violetta ist eine der an spruchsvollsten der gesamten italienischen Oper. Erst heute, da sich in der Ära Schultz/David das sängerische Niveau des Aachener Hauses um mehrere Etagen hob scheint die Zeit reif zu sein für eine den Anforderungen dieses Meisterwerkes entsprechende Einstudierung. Der Opernfreund muß allerdings dieses Niveau mit einer Konzession bezahlen: der italienischen Originalsprache. Nur auf dieser Basis läßt sich ein hochrangiges Verdi-Ensemble heute zusammenbringen.
Der junge Matthias Nowack führte Regie. Eine offenkundige Begabung. Er beließ in dem variabel-praktikablen Einheitsbild von Roswitha Thiel dem Stück sein zeitkoloristisches Ambiente, wofür nicht zuletzt auch die prachtvollen Kostüme von Simone Willnecker sorgten. Die Soiree bei Violetta zu Beginn wird nicht zum Spektakel aufgedonnert, und wenn die Geschichte steif zu werden droht, sorgt plötzlich die Drehbühne für Bewegung.
Sorgfältig durchgezeichnet ist die Personenregie, in diesem musikalischen Kammerspiel mit seinen sensiblen psychologischen Bezugsfäden von besonderer Bedeutung für die emotionale Wirkung des Ganzen. Spannend und zielstrebig wird die Katastrophe im Spielsaal vorbereitet und zur Entladung gebracht.
Liegt das alles im Rahmen einer guten, souverän gehandhabten Konvention, so geht Nowack im Schlußbild eigene Wege. Er inszeniert hier nicht Piave/Verdi, sondern den Schluß von Dumas Roman "La Dame aux camélias": Violetta stirbt einsam, die Wiederbegegnung mit ihrem geliebten Alfredo und dem reuigen Vater Germont findet nur in der entrückten Phantasie der Sterbenden statt. Das ist szenisch faszinierend gemacht, widerspricht aber der Musik, der sich ansonsten Nowack so schmiegsam anpaßt. Den optischen Schemen müßten logischerweise akustisch-sängerische entsprechen. Da das naturgemäß nicht geht, liegt hier ein Bruch vor. Aber selbst dieser Bruch hat seine ästhetisch-emotionalen Reize.
Als Ganzes ist die Verdi-Inszenierung handwerklich ausgezeichnet gemacht, sensibel auf die Musik eingehend, voller Poesie und Lebendigkeit. Auch für die effektvollen Tänze im Spielsaal-Bild scheint Nowack zuständig gewesen zu sein.
Sänger-darstellerisch überragt, wie gesagt, diese "Traviata" ihre Vorgängerinnen weit. Die alles entscheidenden drei Hauptpartien kann man weder in Köln noch in Düsseldorf besser hören. Cecily Nall bringt für die Violetta alles mit, was hier gefordert wird, Koloraturbeweglichkeit im Eröffnungsbild, mühelose Spitzentöne, ergreifende Ausdruckshaftigkeit in der Auseinandersetzung mit Germont und in der Sterbeszene. Die Stimme hat Glanz und Kern, wird in jeder Phase souverän geführt. Darstellerisch gelingt Cecily Nall die Wandlung von der kühl-puppenhaften Kokotte zur leidenschaftlich liebenden Frau überzeugend . Die psychologisch-musikalische Entwicklungskurve, die Verdi zeichnet, wird von ihr darstellerisch nachvollzogen.
Auch ein Alfredo, wie ihn der Lette Ingus Petersons hinstellt, ist für Aachen ein Novum. Das Ideal eines jungen italienischen Tenors mit viel Schmelz, strahlender Höhe aber auch - was in diesem Fach selbst bei prominenten Stars nicht alltäglich ist - lyrischen Pianotönen, die substanzvoll und gestützt sind. Hier zeichnet sich eine Karriere ab, wenn der Sänger sich nicht verleiten läßt, zu früh ins schwerere Fach einzusteigen und dann sein schönes Legato einzubüßen.
Über welche Qualitäten Theodore Carlson verfügt, wenn man ihn nicht gerade zu Bach animiert, das zeigte sein warm und klangvoll ausgesungener, espressiver Vater Germont. Sehr schön seine große Arie am Ende des zweiten Akt, sowohl was die Phrasierung als auch das noble Espressivo angehen. Aus der Fülle der kleineren Partien seien die Flora von Heike Theresa Terjung, die Annina von Frauke May, der Gaston von Detlev Beaujean, der Douphol von Frans Kokkelmans und der d'Obigny von Manfred Reiner genannt. Sie alle wußten das Niveau des Abends zu wahren.
Am Dirigentenpult stand Philippe Auguin. Bereits die klangliche Sensibilität, mit der er das Vorspiel anfaßte ließ aufhorchen. Kleine rhythmische Differenzen mit der Bühne zu Beginn waren schnell ausgebügelt. Mit großer Einfühlung begleitete er die Sänger, entfaltete er die pastellene Farbigkeit von Verdis Orchester, tönte er dynamisch ab, koordinierte er die von Rainer Steubing vorbereiteten Chorszenen.
An dem rauschenden Erfolg des Abends hatten er und das in bester Verfassung spielende Orchester gebührenden Anteil. Beifall über Beifall, in dem ein einsames Buh beim Erscheinen des Regisseurs zu Recht hoffnungslos unterging. Es gibt in der Tat seltsame Zeitgenossen.
Aachen.- Diese Inszenierung der ebenso beliebten wie schwierigen Verdi-Oper ist mehr als ein Geschenk, das das Theater wenige Tage vor Weihnachten sich selbst und einem begeisterten Premierenpublikum machte. Sie ist vielmehr die grandiose Bestätigung der Leistungsfähigkeit eines richtig geführten und eingesetzten, mit adäquaten Mitteln ausgestatteten Ensembles. Ein überzeugender Erfolg!
Erst bangt man, ob Cecily Nall die höchst anspruchsvolle Titelpartie der "Traviata" Violetta mit ihren Koloraturen bewältigt. Aber die Sängerin setzt ihren klaren, sauberen Sopran sehr ökonomisch ein und steigert sich von Szene zu Szene bis zu der ergreifenden Sterbearie. Eine großartige Leistung! Ihr Erfolg wird mitgetragen von zwei nicht minder anspruchsvoll besetzten Partien: Ingus Petersons ist als Alfredo kein Belcanto-Schmetterer, sondern ein lyrischer Tenor, der Gefühle bezwingend in Töne umzusetzen weiß. Dem Vater Giorgio gibt Theodore Carlsons wohlklingender Bariton musikalisches Profil.
Wichtig für den Erfolg des Abends ist nicht nur, daß auch die weiteren Rollen angemessen besetzt sind, sondern dass Ausstattung, Inszenierung und Musik zusammen mit den Solisten eine Einheit bilden. Matthias Nowack gelingt damit ein überzeugendes Regie-Debüt in Aachen. Er arbeitet sehr diffizil das Seelendrama der Liebenden heraus, weiß aber auch in den beiden Ballszenen die Massen auf der hier sinnvoll eingesetzten Drehbühne sicher zu bewegen. Bühnenbild und Kostüme setzen wichtige Akzente, der Chor ist gut Präpariert und Philippe Auguin am Pult beherrscht sein Metier. Perfekt!
WR.
AACHEN. - Verdis "Traviata", eines der sensibelsten Psychogramme der Opernliteratur, bescherte dem Aachener Stadttheater rechtzeitig zum Weihnachtsfest einen nahezu ungetrübten Publikumserfolg. Musikalische Meriten und ein ungewöhnliches, wenn auch fragwürdiges szenisches Konzept lohnen eine sachliche Auseinandersetzung mit der Produktion. Matthias Nowack bemüht sich in seinem Regiedebüt um mehr als um eine bloße Illustration, scheint dabei jedoch stärker der literatischen Vorlage von Dumas zu trauen als Verdis Musik. Eklatantestes Beispiel der Schlußakt: Violetta stirbt bei Nowack einsam, Alfredo und sein Vater leuchten als phosphorisierende Gespenster im Hintergrund vor sich hin, während Violetta an der Rampe leidet. Das entspricht durchaus Dumas' Roman und wirkt auch realistisch strenger als Verdis möglicherweise altmodisches Happy End im Unglück. Doch daß Violetta nur visionär in den Armen ihres Geliebten stirbt, dafür enthält die Partitur nicht das geringste Anzeichen. Zumal die intimen Duette und Arien durch die große räumliche Trennung zwischen den Liebenden eine Verfremdung erfahren, die die geniale Musik zwar überlebt, ihr aber nicht gut zu Gesicht steht.
Auch wenn die Traviata" in ihrer psychologischen Feinarbeit der musikalischen Alltagskost ihrer Zeit um 1850 haushoch überlegen ist, bleibt sie doch eine italienische Oper und nicht ein Beispiel französischen Realismus'.
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